Protagonistinnen in Fantasy-Büchern oder: Stockholm-Syndrom?

Ich habe immer schon gern Fantasy-Bücher gelesen. Als Jugendliche bin ich auf die britische Autorin Tanith Lee gestoßen, deren unfassbare Vorstellungskraft und Wortgewalt mich begeisterte. Schon damals fiel mir auf, dass viele ihrer Protagonistinnen ausgesprochen jung waren, meistens deutlich unter 20 Jahre alt. enter image description here

Dieser Trend setzte sich fort. In älterer Fantasy, wie bei J. R. R. Tolkien, kommen kaum bedeutsamen Frauen vor, eigentlich fallen mir da nur Galadriel, Arwen und Eowyn ein, die allesamt nur episodenweise eine mittlere Rolle spielen, während die Gefährten alle männlich sind. Sein Zeitgenosse C. S. Lewis hat in den Narnia-Büchern eine Schar von Geschwistern als Hauptcharaktere, darunter sind auch Mädchen, die zwar unter den Rollenklischees der Zeit „leiden“, aber doch insgesamt recht positiv und auch ziemlich aktiv beschrieben werden. Hier geht es aber um Kinder (die höchstens mal als Erwachsene kurz erwähnt werden, z. B. in der Zeit als sie gemeinsam jahrzehntelang Narnia regieren).

Heute dagegen wimmelt es vor Frauen in der Fantasy, da dieses Genre überaus populär ist, aber ältere Charaktere muss man mit der Lupe suchen. Das stört nicht nur mich: Ich habe, als ich im Internet gezielt nach älteren Heldinnen gesucht habe, etliche Reddit-Diskussionen gefunden, in denen auch andere Frauen nach gleichaltrigen Hauptpersonen gesucht haben, oder wenigstens mitten im Leben stehenden, so ab 30 Jahren.

Es gibt sie, z. B. von T. Kingfisher. In „A Sorceress Comes to Call“ haben wir eine ganz junge Protagonistin und eine ältere (so um die 50?). Ich habe auch sehr gerne die ganzen Romane von Robin Hobb gelesen, die mit der Farseer-Reihe zu tun haben, also Tawny Fool, Liveship Traders etc. – da altern die vornehmlich männlichen Charaktere im Laufe der Zeit.

Aber es bleibt dabei – 95 Prozent oder mehr der ProtagonistINNEN sind unglaublich jung, oft erst 14, meistens 16 bis 18 und vielleicht im Laufe der Geschichte um die 20 Jahre alt. Dazu kommt, dass die Herren, in die sie sich verlieben, oftmals deutlich älter sind. Das fiel mir zwar auf, aber ich habe erst richtig drüber nachgedacht, als ich online eine Diskussion drüber las.

So beginnt eines meiner liebsten Fantasy-Bücher der letzten Zeit – „Uprooted“ von Naomi Novik aus dem Jahr 2015 – damit, dass eine sehr junge Frau von einem griesgrämigen älteren Zauberer entführt wird, das hat Tradition. Er holt sich alle paar Jahre so ein Mädchen aus dem Dorf, man weiß nicht genau, wozu. Aber wenn die jungen Frauen irgendwann gehen dürfen, verlassen sie meistens schnell das Dorf, um irgendwo anders zu leben, und haben mit niemandem mehr richtig engen Kontakt. Unsere Protagonistin hat große Angst vor ihm, aber mit der Zeit findet sie heraus, dass er eigentlich ganz okay ist und irgendwann verlieben sie sich auch ineinander (natürlich!), was aber eher ein Neben-Handlungsstrang ist. Dass es sich dabei eigentlich um eine richtig toxische Geschichte handelt, ist mir eigentlich selbst gar nicht so bewusst gewesen – viel zu lange habe ich Fantasy-Geschichten gelesen, in denen so etwas normal ist. Und gerade bei Fantasy muss man ja nunmal unsere Welt ein wenig vergessen, um sich auf die Regeln der Bücherwelt einzulassen. Ich nehme es auch hin, dass in einer anderen Welt 16jährige Mädchen problemlos auf eigenen Beinen stehen und sich durch allerhand Abenteuer kämpfen, so kennen wir es auch aus den Märchen. Das hat alles symbolische Aspekte und Coming-of-Age-Geschichten sind so und so weiter. Trotzdem würden wir in der echten Welt in so einer Situation doch sehr kritisch sein und uns fragen, ob es sich wirklich um Liebe oder doch eher das Stockholm-Syndrom handelt.

Mir stellen sich zwei Fragen: 1. Warum schreiben auch ältere Autorinnen so oft über so junge Frauen? Ganz offensichtlich gehen die Verlage davon aus, dass die Leserinnen eher jung sind, das macht sich an Book-Tok-Trends und dergleichen fest. Also werden massenhaft ähnliche Bücher für diese Altersklasse auf den Markt geworfen. Ob sich das an tatsächlichen Umfragen orientiert? Ich habe Zweifel. Wahrscheinlich sind ältere Leserinnen einfach weniger sichtbar. Und natürlich können sich ältere Frauen bestimmt oft in junge hineinfühlen – jede hat ja selbst einmal erlebt wie das ist – während sich junge Frauen vielleicht weniger für ältere interessieren und deren Gedankenwelt nicht unbedingt erforschen wollen oder nachvollziehen können.

Die andere Frage: 2. Warum entstehen in der Fantasy so viele Liebesbeziehungen zwischen einem älteren und/oder viel mächtigeren Mann (König, Elfenkönig, Magier, etc.) und einem ganz jungen Mädchen, das häufig in diese Situation hineingezwungen wird? Sollten gerade ältere Autorinnen jungen Leserinnen nicht andere Geschichten erzählen? Und sollen/wollen wir wirklich glauben, dass eine 16Jährige eine ebenbürtige Partnerin für einen 200jährigen Vampir/Elfenkönig/Zauberer ist? Oder outet er sich damit nicht als jemand, der sich selbst überhaupt nicht weiter entwickelt hat, während die sehr junge Frau in den ein, zwei Jahren der Buchhandlung eine unglaubliche Entwicklung durchgemacht hat, meistens geprägt von Traumata (Tod der Familie, Entführung, plötzlich in einer ganz anderen Umgebung leben müssen, Krieg, etc.). Aber lässt sie das wirklich dermaßen reifen, dass die beiden dann zueinander passen? Ach, ich weiß nicht, ich weiß nicht... Was denkst du darüber?